Massenentlassungen beim Schnell-Lieferdienst

Getir in der Krise: Großer Stellenabbau angekündigt.

22/08/2023
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Können Geschäftsmodelle, die auf Fahrrad-Kurieren (“Ridern”) basieren, überhaupt nachhaltig funktionieren? Bislang steht die Beweisführung aus. Zumindest in Europa.

Doordash, der Mutterkonzern des in Deutschland bekannten Lebensmittel-Lieferdienstes Wolt, hatte Ende letzten Jahres den Abbau von 1.250 Arbeitsplätzen angekündigt. Firmenchef Tony Xu reagiert damit auf die weltweiten Herausforderungen und führt als Gründe, Inflation, steigende Personalkosten und eine abnehmende Konsumbereitschaft an (einer Studie von Boston Consulting zufolge sparen die Konsumenten europaweit als Allererstes an Essensbestellungen). Neben Wolt ist Doordash in Deutschland auch an Flink beteiligt. Während die Aktie von Doordash zumindest über seinem Ausgabekurs tariert (aktuelle Bewertung rund 30 Milliarden US$, Umsatz 2022: 6,583 Milliarden US$), tun sich die europäischen (fahrrad-basierten) Lieferdienste eher schwer - und das unabhängig davon, ob sie Essen von Restaurants ausliefern oder sich als schnelle Supermarkt-Alternative positionieren. 

So liegt beispielsweise der Aktienkurs des Marktführers Lieferando inzwischen bei rund 12,50 Euro und damit rund 84 Prozent unter seinem IPO-Ausgabekurs. Ähnlich kritisch ist die Zwei-Jahres-Bewertung von Delivery Hero. Zu Coronazeiten lag der Aktienkurs bei über 120 Euro. Inzwischen liegt er bei knapp über 35 Euro, was einer Marktkapitalisierung von rund 9,5 Milliarden Euro entspricht. 

Im Quick-Commerce-Segment ist die Stimmung noch düsterer. Hier ist das Geschäftsmodell ungleich komplexer, da nicht nur Fahrer organisiert werden müssen, sondern man gleichzeitig auch noch ein flächendeckendes Netz an Darkstores aufbauen und betreiben muss. Das Konzept,  Supermarktprodukte binnen Minuten per App an die Haustür zu liefern, war ein absoluter Corona-Gewinner und erlebte in dieser Zeit einen rasanten Boom. Nach der anfänglichen Euphorie in dem Hype-Segment (siehe Gorillas wird neun Monate nach Gründung zum Unicorn) und zahlreichen Mega-Runden kam die Ernüchterung. Vision und Modell konnten den Realitäts-Check nicht bestehen. Das Modell “Quick-Commmerce” geht als Sinnbild für die übertriebenen Bewertungen der “Wachstum-um-jeden-Preis”-VC-Ralley des Jahres 2021 in die Annalen der Venture-Capital-Branche ein. In Folge verweigerten Investoren Gorillas die Treue und weitere Liquidität. Einziger Ausweg: Der Firesale an den türkischen Konkurrenten Getir, nach eigenen Angaben “Europas führender Expresslieferdienst” (Dezember 2022). 

Sinnbild für die Skepsis gegenüber dem Quick-Commerce-Modell ist die Bewertung Getirs, das im Zuge der Gorillas-Übernahme stark abgewertet wurde - laut Handelsblatt auf angeblich sieben Milliarden US$. Bei der vorherigen Finanzierungsrunde wurde Getir noch mit 12 Milliarden US$ bewertet.  Auch der Getir-Konkurrent Flink hatte laut Techcrunch bei seiner letzten Finanzierungsrunde über 150 Millionen US$ eine deutliche Abwertung hinnehmen müssen. Die Bewertung sei demnach von ursprünglich 3 Milliarden US$ auf rund 1 Milliarde US$ gesunken. 

Getir trennt sich von Mitarbeitern

Wie soeben bekannt wurde, sieht sich Getir zu drastischen Kosteneinsparungen gezwungen. Nachdem sich das Unternehmen kürzlich erst aus Spanien, Portugal und Italien zurückgezogen hatte, kündigt der Lebensmittel-Lieferdienst an, sich von 2500 Mitarbeitern zu trennen. Dies entspricht mehr als jedem zehnten Beschäftigten. Derzeit arbeiten 23.000 Menschen in fünf Ländern für das Unternehmen. Hintergründe seien auch hier die verschlechterte Marktlage und die Notwendigkeit zur Effizienzsteigerung. In einer Mitteilung hieß es weiter, man wolle sich auf die Präsenz in Deutschland, der Türkei, Großbritannien, den Niederlanden und den USA fokussieren. 

Ende Juli hatte Getir dementiert, dass dem Unternehmen die Insolvenz drohe. Parallel hatte das Branchenmagazin Techcrunch von einer großen Liquiditätskrise berichtet. In einem Statement hatte Getir verkündet, dass eine Finanzierungsrunde kurz vor dem Abschluss stehe: “Getir, der Pionier für ultraschnelle Lebensmittellieferungen, hat angekündigt, dass es sich geordnet aus Spanien, Italien und Portugal zurückziehen will. Gleichzeitig schließt Getir eine Finanzierungsrunde ab und wird weiterhin in Großbritannien, den USA, Deutschland, den Niederlanden und der Türkei tätig sein, wo 96 % der Einnahmen des Unternehmens erzielt werden”, hieß es. In der aktuellen Mitteilung vom Dienstag wird die mögliche Finanzierungsrunde nicht mehr erwähnt. 

Über Getir

Getir wurde im Jahr 2015 in Istanbul gegründet und gilt als Pionier für die schnellen Lieferservices für Lebensmittel und Restaurantlieferungen. Seit 2021 expandiert das Unternehmen auch nach Europa, u.a. nach London, Amsterdam, Paris, Hamburg und Berlin. Ebenfalls 2021 hatte Getir die spanische Sofortmarkt-App BLOK übernommen. 2022 folgte die Übernahme des konkurrierenden Berliner Lieferdienstes Gorillas. Getir-Gründer Nazım Salur ist Seriengründer und hatte zuvor bereits die Carsharing-App BiTaksi gegründet.

Investoren Getir

Getir hat in 7 Finanzierungsrunden insgesamt $1,8 Mrd. aufgebracht. Die jüngste, offiziell verkündete Finanzierung wurde am 17. März 2022 in einer Series-E-Runde aufgenommen. Zu den Investoren von Getir gehören Flat Capital, Abu Dhabi Growth Fund, Mubadala, Ibrahim Ajami, Tiger Global Management, Alpha Wave Global, Sequoia Capital, Revo Capital, Silver Lake, Base Partners, DisruptAD, Crankstart Foundation, Fiba Holding A.Ş, Esas Holding, Re-Pie Asset Management, Goodwater Capital und Michael Moritz.

Erwähnte Profile
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Flink ist ein Online-Startup, das Lebensmittellieferungen innerhalb von zehn Minuten anbietet.
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Gorillas ist ein neu gegründetes Lieferunternehmen, das seinen Kunden die Bestellung von Lebensmitteln und anderen Haushaltsartikeln ermöglicht.
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