Richard David Precht:

„Die Leistungsgesellschaft funktioniert nicht mehr“

17/06/2017
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Herr Precht, wir leben in einer Zeit, in der scheinbar alles, was erdacht werden kann, irgendwann auch möglich wird. Müsste nicht jetzt wieder eine große Zeit der Philosophen anbrechen?

Richard David Precht:Wer sonst soll die Veränderungen erfassen, einordnen und Leitplanken für unsere Gesellschaft setzen? Im Prinzip leben wir derzeit in einer wunderbaren Nährlösung für Philosophen. An unseren Universitäten herrscht jedoch ein Ausbildungssystem, das diese Art von Generalisten-Philosophen nicht hervorbringt. In der akademischen Welt werden Philosophen zum Spezialisten ausgebildet – also entweder zum historischen Spezialisten, der sich sehr gut mit Schelling auskennt, oder zum Logik-Spezialisten, also analytische Philosophie. Die Hälfte der Lehrstühle gehört zur analytischen Philosophie. Damit können Sie aber die Gegenwartsprobleme nicht durchdenken.

Wo genau liegt das Problem?

Richard David Precht: Wir haben ja tatsächlich einen starken Bedarf an philosophischer Orientierung. Wenn man überlegt, wann es in der Vergangenheit jemals einen so großen Bedarf an Philosophen gab, dann gibt es eigentlich nur zwei Zeitalter. Zum einen war es die große Umbruchszeit, als die Demokratie in Athen den Bach runterging. Damals lebten Platon und Aristoteles. Alexander der Große planierte anschließend alles wieder. Dann errichteten die Römer ihr Imperium und waren ohnehin eher praktisch als philosophisch veranlagt. Die griechische Philosophie hatte also eine Blütezeit von 50 Jahren. Eine zweite bedeutende Blütezeit war zwischen 1750 und 1830, in etwa bis Hegels Tod. In dieser Epoche wurde der gesamte Umbruch von der Adelsgesellschaft zur Bürgergesellschaft durch die Französische Revolution und deren Nachwirkungen von Philosophen gedanklich vorweggenommen. Die Denker waren damals hochangesehen, ihre Schriften hatten in diesem Totalumbruch großen Einfluss. Und heute erleben wir wieder einen gewaltigen Umbruch. Jene bürgerliche Arbeitsgesellschaft, die zwischen 1750 und 1830 entstanden ist, bricht jetzt vollständig um in etwas anderes. Die klassische Leistungsgesellschaft funktioniert nicht mehr, wenn für die Hälfte der Leute keine Arbeit mehr da ist, weil Computer und Roboter sie erledigen. Ich finde die Perspektive auf diese Gesellschaft sehr schön.

„Die klassische Leistungsgesellschaft funktioniert nicht mehr, wenn für die Hälfte der Leute keine Arbeit mehr da ist“

Arbeit ist also nicht mehr als Mittelpunkt des Lebens?

Richard David Precht:In der griechischen Demokratie haben die Frauen, die Sklaven und die Ausländer gearbeitet. Die Männer mit Bürgerrechten haben der Muße gefrönt. Sie waren auf andere Weise tätig, aber eben nicht gegen Geld. Sie haben Politik gemacht und sich mit vielerlei Sachen beschäftigt, sie hatten genug Pläne für den Tag. Und heute entsteht wieder eine Gesellschaft, in der es für sehr viele Menschen keine klassische Erwerbsarbeit geben wird. Das wird zu gewaltigen Umstrukturierungen führen. Bei solchen gesellschaftlichen Transformationen wären Philosophen wichtig, um Orientierungen zu geben. Aber diese Art von Philosophen entsteht am ehesten jenseits der Universitäten.

Wie sieht zukünftig unser Menschenbild aus?

Richard David Precht: Heute definiert sich der Menschen noch primär über Arbeit. Der Mensch definiert sich erst seit 250 Jahren über die Arbeit. Wir beobachten, dass die meisten jungen Leute inzwischen sagen: ‚Wir brauchen nicht mehr Zeug, wir brauchen mehr Zeit.‘ Sie wollen eine Arbeit machen, in der sie selbst vorkommen, die Sinn macht. Für die Generationen unserer Eltern und Großeltern war das Leben kein Wunschkonzert. Man hat im Grunde genommen gelebt, um zu arbeiten, und nicht gearbeitet, um zu leben. Das ist heute anders.

„Wir brauchen nicht mehr Zeug, wir brauchen mehr Zeit“

Kann der Mensch mit diesen neuen Freiräumen umgehen?

Richard David Precht:Was heißt: ‚Der Mensch?‘ Also der gut gebildete Mensch mit einem wohlsituierten Elternhaus ganz sicher. Doch viele andere werden, wenn sie nichts mehr zu tun haben, eben nicht kreativ, sondern destruktiv. Dies ist eine Frage von Bildung, das fängt schon im Kindergarten an. Bildung bedeutet, sich selbst in die Lage zu versetzen, aus sich selbst heraus Ziele zu entwickeln und diese auch zu verfolgen. Aber dieser Aspekt kommt in unseren Schulen so gut wie nicht vor. Dort lernt man immer für eine Belohnung, für Zensuren, und später in der Arbeitswelt für Geld. Im Zusammenhang mit der wegbrechenden Arbeit muss man auch die Sharing Economy betrachten. In Deutschland hängen viele Jobs an der Automobilindustrie. Autos stehen statistisch belegt pro Tag 23 Stunden ungenutzt herum. Was passiert, wenn das Interesse am Autobesitz sinkt? Wenn man eine Flatrate pro Monat zahlt und dafür eine tarifabhängige Reichweite an Kilometern nutzen kann, bräuchte man wahrscheinlich nur noch zwischen einem Fünftel und einem Siebtel der gegenwärtig existierenden Fahrzeuge. Das wäre das Ende der deutschen Automobilindustrie, wie wir sie kennen.

Darauf wollte ich hinaus.

Richard David Precht:Ich rede häufiger mit der Automobilindustrie. Die Hersteller verfügen über sehr gute Marken. Mercedes ist eine Weltmarke, und mit einer Weltmarke kann man viel anfangen. Da muss man nicht unbedingt Autos bauen. Wenn sich die Zahl der Autos massiv reduziert, wird auch das Geschäftsmodell im Automobilsektor ganz klein. Die Strategie müsste daher sein, jetzt in ganz neue und andere Zukunftsfelder zu investieren, die nichts mehr mit Verkehrsmitteln im klassischen Sinne zu tun haben. Das tun die Konzerne aber nicht. Denn die Auftragsbücher sind gut gefüllt, der Automobilindustrie geht es so glänzend wie selten zuvor. Versuchen Sie mal, den Aktionären zu erklären, dass ein erfolgreiches Geschäftsmodell so nicht weitergeht!

Wie stehen Sie zum bedingungslosen Grundeinkommen? Ist das auch eine Zwangsläufigkeit?

Richard David Precht:Ja. Es gibt keine Alternative. Wir müssen verhindern, dass die Binnenmärkte zusammenbrechen und dass Leute, weil sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen, kein Geld in der Tasche haben. Deswegen müssen wir das Grundeinkommen einführen. Ich bin sicher, dass es kommen wird, und zwar völlig ungeachtet der Frage, was für ein Menschenbild dahintersteht. Aber wir Deutschen werden nicht die Vorreiter sein. Die Finnen werden damit beginnen, später die Dänen und die Holländer – und irgendwann machen wir das auch.

„Ich bin sicher, dass das Grundeinkommen kommen wird“

Die Menschen werden künftig mehr Zeit haben, aber die Probleme in der Welt werden nicht weniger. In dieser Marktlücke könnte Deutschland doch quasi als Problemlöser in der Welt operieren?

Richard David Precht: Ja, sehr toll (lacht). Das Dilemma ist, dass Firmen wie Google damit werben, die Probleme der Welt zu lösen, es aber definitiv nicht tun. Gegen die großen Probleme dieser Welt, beispielsweise gegen den Hunger, haben sie bislang nichts gemacht. Wir haben im Augenblick einen enormen Kreativitätsmangel im Silicon Valley.

Warum?

Richard David Precht:Schaut man sich an, was sie im Silicon Valley seit der Erfindung des Smartphones noch zustande gebracht haben, und vergleicht dann, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts passiert ist: Elektrifizierung, Erfindung des Telefons, von Aufzügen, des Automobils, des Flugzeugs und so weiter. Das war seinerzeit eine komplette Revolutionierung der Lebenswelt. Und hinter all diesen Entwicklungen standen Persönlichkeiten wie Otto Lilienthal oder die Gebrüder Wright, die überhaupt nicht auf ein ökonomisches Modell ausgerichtet waren. Im Silicon Valley geht es wie in der ‚Höhle der Löwen‘ um das schnelle, sichere Geschäftsmodell. Aber diese Einstellung blockiert die Kreativität völlig. Viele Dinge, die am Anfang verrückt aussehen und am Ende einen Segen für die Menschheit bringen könnten, werfen kein schnelles Geld ab und werden daher nicht gefördert. Es ist so eigentümlich: Tausende von intelligenten Leuten sind im Valley versammelt und für die wirklichen Probleme der Menschheit kommt so wenig heraus.

„Das Dilemma ist, dass Firmen wie Google damit werben, die Probleme der Welt zu lösen, es aber definitiv nicht tun“

Welcher Knoten muss platzen? Sind es die Leute, die umdenken müssen? Oder die Unternehmer, die sich loskoppeln müssen vom schnellen Erfolg?

Richard David Precht:Schwierig! Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Effizienzdenken die Kreativität abtötet. Wenn ich von Anfang an immer gucken muss, ob sich das Ganze lohnt, dann gehe ich viele Wege überhaupt nicht. Auch bei den großen Konzernen: Wenn man dreimal McKinsey durchgejagt hat, ist keine Kreativität mehr vorhanden. Dann ist alles so effizient, dass nichts Neues mehr entstehen kann. Kreativität entsteht, wenn man Zeit hat und nicht in Zweckzusammenhänge eingebunden ist.

Müsste man nicht aufhören, in Einzelstaaten zu denken, und die Dinge global und gemeinschaftlich anpacken?

Richard David Precht: Das ist eine Frage, an der ich verzweifle. Aber es geht nicht nur um die Ebene des Staates. Nehmen wir die landwirtschaftliche Intensivhaltung. Die weltweite Viehhaltung ist der größte Klimakiller und Umweltsünder. Doch der einzelne Unternehmer, der etwas macht, das millionenfach multipliziert für den Planeten brandgefährlich ist, sieht sich persönlich – zu Recht – nicht für die Probleme der Welt verantwortlich, sondern für seine Mitarbeiter, für seinen Betrieb, für seine Kinder und so weiter. Der bewegt sich in einer ganz eigenen Logik, die aber für die großen Zusammenhänge fatal ist. Zwar findet er es nicht gut, dass der Regenwald abgeholzt wird, aber er sagt sich: ‚Das mache ich doch nicht!‘ Trotzdem ist er Teil dieses Systems. Deshalb brauchen wir eine übergeordnete Instanz, die eine globale Perspektive einnimmt. Aber dafür sehe ich wenig Chancen. Es funktioniert ja noch nicht einmal in Fragen von Krieg und Frieden. Es gibt keine Weltvernunft.

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Effizienzdenken die Kreativität abtötet“

Ist die Vernunft die Lösung unserer Probleme?

Richard David Precht:Wir haben da ein riesiges Problem: Die globalisierte Ökonomie folgt einer ganz bestimmten Logik. Und diese Logik hat der Welt sowohl Schaden zugefügt als auch Nutzen gebracht. Sie hat uns den ganzen Wohlstand ermöglicht, aber gleichzeitig auch den Planeten an den Rand des Ruins gerückt. Die Ökonomie bräuchte deshalb ein Korrektiv. Aber auf welcher Ebene? Auf regionaler, nationalstaatlicher und globaler Ebene gibt es solche Korrektive nicht. Zurzeit fahren wir uns als Gesamtheit an die Wand, obwohl ganz viele Leute dies sehen und nicht gut finden.

Zugleich wollen Jeff Bezos und Co. den Weltraum erobern.

Richard David Precht: Der überflüssigste Quatsch, den man sich überhaupt vorstellen kann.

Gibt es in der Startup-Welt Themen, die Sie besonders spannend finden?

Richard David Precht: Ich denke, die klassischen Fragen stellen eine echte Aufgabe für Startups dar. Etwa: ‚Wer hungert und warum?‘ Denn wenn aus einem Hungerland ein Land wird, in dem die Menschen keinen Mangel mehr leiden, entsteht ein gewaltiger Absatzmarkt. Und der ist für Unternehmen hochinteressant. Oder die Überlegung, wie man als Startup in Entwicklungsländern kreativ verhindern kann, dass nur für den Export produziert wird. So etwas wäre Entwicklungshilfe pur. Es geht also darum, die vorliegenden Probleme zu lösen – und sich nicht zur blindwütigen Wachstumssteigerungs-Schnickschnack auszudenken, den die Menschheit nicht braucht.

Das Gespräch führte Jan Thomas[td_block_text_with_title custom_title=”RICHARD DAVID PRECHT”]Richard David Precht ist Philosoph, Publizist und Autor. Er ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg sowie für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen Bestseller. Er moderiert die Philosophiesendung „Precht“ im ZDF.

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