Welches Leben, welches Unternehmen?
Niclas, Lukas, Jeremias und ich hatten uns für den 1. Mai 2012 auf der Dachterrasse unserer WG verabredet. Wer von seiner Weltreise zurückkehren, sein Studium abschließen und Jobangebote ablehnen wollte, würde da sein, um gemeinsam eine Firma zu gründen. Wir haben uns vier Wochen aufs Land zurückgezogen, nach Uelzen, 30 Ideen ausgearbeitet und uns dann mit viel Idealismus für das Projekt entschieden, das unsere eigene und die Welt „der Nutzer wirklich besser machen würde, etwas, wohinter wir zu 100 Prozent stehen konnten, wofür wir auch als Gruppe standen. Und deswegen sollte die Mentor-App Menschen dabei helfen, ihre persönlichen Ziele zu erreichen: „Bridge the gap between aspiration and reality.“
„Uns verbindet die Überzeugung, die Realität verbiegen zu können“
Mit diesem Traum waren wir selbst auch angetreten – unsere Leitfrage für Uelzen war immer: Was für ein Leben wollen wir führen und welches Unternehmen kann uns dabei helfen? Wir hatten alle Timothy Ferriss’ „4 Hour Workweek“ gelesen und waren fest entschlossen, unser Leben so selbstbestimmt wie möglich zu gestalten. Mit Niclas (ausgebildeter Schauspieler) und Jeremias (Anwalt) bin ich in Leipzig zur Schule gegangen, Lukas habe ich beim Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin kennengelernt. Uns verbindet die Überzeugung, Realität verbiegen und durch Wände gehen zu können, wie wir es nennen, wenn wir versuchen, unsere Lebensumstände aktiv zu formen. Dazu gehört neben dem Gründen (selbstbestimmtes Arbeiten und realistischer Weg zu finanzieller Unabhängigkeit) aber vor allem auch die gemeinsame Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung.
Jeder Einzelne von uns und die Geschichte der Gruppe ist mittlerweile zu großen Teilen verantwortlich für die heutigen Charaktere und Ausgangssituationen der anderen drei. Als wir mit dem getesteten Prototyp von Mentor nach Berlin zurückkehrten, haben wir in kurzer Zeit Investoren gefunden, eine GmbH gegründet, sind in ein Büro gezogen und haben ein Team von Entwicklern und Designern für unseren Weg begeistern können. Alles lief wie am Schnürchen, Apple hat die App als „neu und beachtenswert“ gelistet, wir hatten die Hütte voller Reporter und 50.000 Nutzer/-innen.
Ich habe irgendwann mit Freudentränchen in den Augen eine E-Mail an meine Eltern verfasst und verkündet, dass ich mir mein erstes Geschäftsführergehalt auszahlen konnte. Meine Familie hat mich sehr früh in all meinen Experimenten und Vorhaben unterstützt, mit 16 war ich laut BVMW „Jungunternehmer des Jahres“, die von meinem Vater gegründete Freie Schule hat mich immer gelehrt, dass ich sein kann, was ich will – dass der Traum vom eigenen Startup mit den besten Freunden dann aber doch so schnell funktionieren sollte, hat mich trotzdem überrascht.
Vom Wellenreiten
Nach gerade einmal 6 Monaten Unternehmer-Euphorie, im Winter 2012, war ich als CEO von Mentor völlig ausgebrannt und lag verängstigt und mit Depressionen im Pflegebett, irgendwo auf der Strecke war der Fokus für das angestrebte Traumleben verloren gegangen und ich hatte mich unter meinem eigenen Unternehmen begraben. Ich habe damals viel zu schnell Gas gegeben und irgendwann die Kontrolle verloren, die Komplexität nicht mehr überblickt, weder an den Erfolg des Unternehmens noch an meine eigenen Fähigkeiten geglaubt und dann wie erstarrt in die Scheinwerfer des herannahenden Unheils geglotzt. Sich selbst dabei zu beobachten, wie man immer unfähiger wird, dem Scheitern etwas entgegenzusetzen und damit ja tatsächlich auch immer untätiger zu werden, schmeckt so bittersüß wie ein Albtraum. Das Fehlen der Möglichkeit, aus diesem Albtraum einfach irgendwann aufzuwachen, erzeugt dann auch noch Angst und Panik.
Nach etlichen Monaten dunkelster emotionaler Täler hat ein sehr heilsamer Aufenthalt im peruanischen Dschungel den ersten Lichtblick beschert. Diese Welle reitend, habe ich die für mein Ego sehr schmerzhafte, aber für meine Gesundheit extrem wichtige Entscheidung getroffen, das Startup-Team ganz offiziell zu verlassen und in einem Café Teller zu waschen und veganen Kuchen zu servieren – meine mir selbst verschriebene Ergotherapie. Nach ein paar Monaten war ich wieder gesund, hatte Kraft und Zuversicht, ich bin sogar zu Mentor zurückgekehrt, wir haben die letzte Version der Anwendung noch gemeinsam in den App Store und über die Ziellinie gehievt und die Firma mit einer legendären Party zugemacht.
Für die große Vision hinter Mentor, bei der am Anfang Umsatz (wie so häufig in der Szene) nicht im Fokus stand, hatten wir uns mit dem bisschen Investorengeld zu wenig Runway besorgt, unsere privaten Dispos haben das auch nur wenige Wochen puffern können. Mentor abzuschließen, hat sich trotz der Schulden befreiend angefühlt. Für mich war klar, dass die nächste Antwort auf die Frage, welches Leben und Unternehmen wir führen wollten, viel gesünder, nachhaltiger, bescheidener ausfallen musste.
„Traumleben jetzt anstatt später“
Wir haben das Team zu einer kleinen Digitalagentur umfunktioniert, sind für zwei Berliner Winter nach Marokko gezogen und haben von dort halbtags Auftragsarbeiten und eigene Experimente umgesetzt – haben aber vor allem auch auf dem Surfbrett gestanden und das Leben und die Sonne genossen. Wir haben das immer als den „mentalen Exit“ bezeichnet. Nicht mit dem Kopf durch die Wand und dann in Rente, „Traumleben jetzt anstatt später“ – das stand auch schon vor Mentor auf unserer Zwölf-Punkte-Schablone, die wir als Leitfaden für uns angefertigt hatten. Die haben wir aber erst nach dem Startup wieder aufgemacht, zur Fehleranalyse.
Filets und duftender Reis
Anfang 2015 haben wir als Agentur der Factory geholfen, sich neu aufzustellen, kurze Zeit später sind wir als Gesellschafter eingestiegen und haben wieder Vollgas gege - ben, das Projekt hat uns vereinnahmt und begeistert. Da waren sie wieder, die großen Erfolge, die 20-Stunden-Tage, die Aufs und Abs, das Drücken auf den Ohren. Als wir ankamen, wollten gerade die meisten anderen Parteien gehen, es gab keine Coworking-Flächen, keine aktive Community und viel schlechte Laune. Nach kurzer Zeit waren Blockaden gelöst, es gab fast jeden Tag ein ausgebuchtes Event (häufig mit internationaler Starbesetzung), eine lange Warteliste für unser Membership-Modell, jede Woche große Presseauftritte und deswegen bald auch viel Aufmerksamkeit aus der Old Economy, Dutzende zahlende Corporate-Partner kamen dazu.
Verantwortung für den Aufbau und das Management eines fast 70-köpfigen Teams zu haben und die Umsetzung etlicher Großprojekte zu leiten, ohne sich selbst die ganze Zeit über die Finanzierung den Kopf zerbrechen zu müssen, war eine Weile lang sehr aufregend, das absolute Gegenteil von Mentor und mit der neu gesammelten Erfahrung eine tolle Herausforderung.
Nach zwei Jahren als COO musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich für mich persönlich trotzdem wieder den Fokus auf das vermeintliche Traumleben verloren hatte, ich habe für die Firma gelebt und mein Le - ben hintangestellt. Das ist für viele der missliche Normalzustand, ich möchte es aber nicht akzeptieren – egal, wie weltfremd das vielleicht wirkt. In der Factory haben außerdem an zu vielen Stellen andere so viel Einfluss gehabt, dass ich mir bald nicht mehr wie ein Unternehmer, sondern eher wie ein Angestellter vorkam – das muss kein schlechter Modus sein, war aber nie einer, den ich für mich wollte.
„Mit einem Van durch Europa fahren.“
Ich habe mich mit meiner Freundin irgendwann in ein sonniges Café gesetzt, mal wieder mit Bleistift auf ein Papier gekritzelt, was ich diesmal mit meinem Leben anfangen möchte, und dann umgesetzt, was da in der ersten Zeile stand: „Mit einem Van durch Europa fahren.“ Wir haben innerhalb weniger Tage einen alten VW Bus gekauft, unseren Hund und ein paar Sachen eingepackt und sind einfach losgefahren.
Am Anfang hatten wir wirklich gar keine Ahnung, nicht einmal einen Deckel für unseren Wassertank, der nach dem Anfahren am Berg immer nur noch halb voll gluckste. Aber es war wundervoll und genau der Kontrast, den ich gebraucht hatte. Der schillernden Bühne der Factory den Rücken zuzukehren, war für mein Ego wieder hart und wahrscheinlich genau deswegen so befreiend. Eine wichtige persönliche Erkenntnis in der Factory-Zeit war, dass man irgendwann nicht mehr spürt, dass der Input noch weiter aufgedreht wird, irgendwann schmeckst du das nächste Filet beim Netzwerkdinner gar nicht mehr – aber dich immer sensibler für die zartesten Reize zu öffnen, das ist endlos möglich und wird immer schöner. Wenn ungesalzener, gedämpfter Reis wie ein Blumenmeer duftet und dir ein Grinsen aufs Gesicht zaubert, mach weiter.
Living the Perfect Van Life
Wenn die Welt dein Vorgarten ist, wenn dein Zuhause da ist, wo du es heute hinstellst, wenn du deinen Geburtstag an einem kleinen wilden Strand auf Sardinien feierst, mit einem Salat, den du dir gerade in deiner mobilen Küche gemacht hast, wenn du deinen Laptop mit deinem eigenen Solarstrom vom Busdach lädst, wenn du dein neues Projekt zum Sonnenuntergang hinter dem Ätna zusammenbastelst und das alles so gut wie nichts kostet, dannhast du die richtige Abfahrt genommen, oder?
Ich wollte nach der Factory mit voller Konsequenz etwas aufbauen, was ich von überall managen könnte, wofür ich niemanden brauchen würde, was voll automatisierbar war, remote, digital, lean – so ist von unterwegs der junge Berliner Mentor Verlag entstanden. Ich wollte im Van nie einfach nur Urlaub machen, ich wollte mir beweisen, dass ich diesen Lebensentwurf nachhaltig meistern könnte, mobil leben, essen, schlafen, aber eben auch arbeiten!
Ich habe für den Verlag ein kleines eigenes E-Commerce-Setup errichtet, erfolgreiche Bücher kleiner Verlage aus Norwegen übersetzen, drucken und einlagern lassen und dann über Facebook-Kampagnen verkauft. Vollautomatisiert war es nie, wenigstens ölen musste man die Zahnräder und manchmal musste man auch ganze Teile auswechseln – aber man konnte extrem selbstbestimmt entscheiden, wann man Pause macht und sich auf der Flughöhe ausruht und wann man Zeit in die Expansion des Systems investiert.
Eine krasse Herausforderung im Van ist, dass sich überlagernde Optionsfenster dazu führen, dass nur selten der perfekte Moment zum Arbeiten ist, manchmal fehlt Strom, manchmal Internet, manchmal ist alles perfekt, aber die Carabinieri finden, du stehst hier falsch. Man lernt, mit vielen Gegensätzen zu jonglieren – du musst Disziplin und gleichzeitig Spontanität entwickeln, du bist mit dem Van einerseits so frei und andererseits so abhängig. Die Erfahrungen sind sehr direkt und unvorhersehbar und so ist es mit einem Rucksack voller Ansprüche und einem gewissen Kontrollzwang teilweise auch im Van wieder ganz schön eng für mich geworden.
Als wir irgendwann wieder zu Hause ankamen, habe ich tagelang eine kopfschüttelnde Faszination für das Wasser empfunden, das da endlos aus der Wand herausschießt und auch einfach wieder in ihr verschwindet. Das ist völlig unvorstellbar, wenn man gerade monatelang zu dritt mit einem 100-Liter-Wassertank auskam und den alle sieben Tage irgendwo auffüllen musste (meistens, wenn man gerade arbeiten wollte). So habe ich auf diesem Abenteuertrip durchs Paradies erst so richtig verstanden, dass die erfolgreichsten Exits tatsächlich vor allem mental stattfinden müssen – Traumleben ist nicht dauerhaft schwarz oder weiß, sondern immer im Wandel und damit muss man klarkommen.
Traumleben: Balance finden
Der Verlag hat mir im letzten Jahr erlaubt, genau dort und genau so zu leben, wie ich es wollte – aber man muss sich das dann auch selbst erlauben und es genießen können, sonst ist das alles nichts wert. Ich habe mir endlich genau das externe Setup geschaffen, in dem meine Vorstellung vom Traumleben zumindest möglich ist. Wenn man dann aber bei einem Rotwein in der Toskana bemerkt, dass in einem noch immer irgendetwas auf der Suche ist, muss man anfangen, sich auf das Gleichgewicht im internen Setup zu konzentrieren. Nur remote entfremdet, mittlerweile wünsche ich mir wieder gemeinsame Workshops im Büro mit meinen Teammitgliedern im Verlag.
Melisa und ich sind nicht wie zuerst geplant komplett dauerhaft in den Van gezogen, sondern haben eine gesunde Kombination aus Berliner Sommerwohnung und Vantrips in den Süden für die Winter gefunden. Und nach all der digitalen und automatisierten Arbeit wünsche ich mir wieder mehr Greifbares, zum Beispiel Kontakt mit Autoren und Lesern. Was man im Außen will und braucht, ist ständig im Wandel, und den dauerhaft zu genießen, geht nur mit innerer Stabilität. Ich bin ein recht impulsiver Charakter und schaffe schnell Realitäten, ich habe deswegen schon eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Lebensentwürfe ausprobiert und möchte behaupten, dass die äußeren Faktoren schnell ihren Grenznutzen erreichen.
Echtes Traumleben stellt sich in einem selbst ein – zum Beispiel, wenn man zehn Tage die Augen und den Mund schließt und meditiert, dafür braucht es gar nichts. Innere Balance zu finden, kann durch die passende äußere Realität begünstigt werden – aber keine äußere Realität ist Garant für das Traumleben. Meine Suche nach dem Traumleben da draußen hat angefangen, mit dem Finger auf mich selbst zu zeigen, das ist nicht immer einfach zu akzeptieren, aber ich habe das Gefühl, hier diesmal die wirklich wichtigen Antworten finden zu können. Als ich zusammen mit Niclas, Lukas und Jeremias angefangen habe, nach Traumleben zu suchen, war ich viel naiver in meiner Zuversicht – Abgründe, die man nicht kennt, kann man auch nicht fürchten.
Zurzeit fühle ich mich so, als ob ich ich mich selbst am offenen Herzen operiere, das ist zwar eine informierte Entscheidung nach allem, was mich die letzten Jahre gelehrt haben, aber es macht mir zwischendurch auch manchmal Angst. Die Komplexität der Herausforderungen auf der Bedürfnispyramide steigt mit zunehmender Höhe und auch wenn ich den Blick gerade nach innen wende, bin ich sehr glücklich, in den nächsten Jahren bei der Suche nach echtem Traumleben nicht allein mit mir zu sein, sondern die Jungs, meine Freundin, meine Familie und Freunde um mich zu haben. Also, was kann schon passieren, auf ins Gefecht, Let’s Enjoy the Ride!