am Beispiel Angela Merkels
Rainer Brüderle kann ein Lied davon singen. Ein zotiger Spruch, ein tiefer Blick ins Dekolleté und schon gerät ein verdienter Politiker ins Fadenkreuz der s.g. Webgemeinde. Im Falle Brüderles primär der weiblichen. Sie besetzt einen Hashtag (#Aufschrei) und zetert, was das Zeug hält. Mal über der Gürtellinie, doch vor allem auch darunter. Die Medien frohlocken. Die Quoten steigen. Und kurz darauf ist der Spuk wieder vorbei.
Ähnlich erging es unlängst der Schauspielerin Katja Riemann. Losgetreten durch einen leichtsinnigen Talkshow-Zusammenschnitt des Medienkritikers Stefan Niggemeier stürzten sich Käthie und Pläthie auf ihren Facebook-Account und kakophonieren aus allen Rohren und auf allen Kanälen. Dies natürlich, obwohl sie in der Regel a) nichts zu sagen haben und b) sie das Thema eigentlich auch nicht tangiert. Doch jeder braucht nun mal seine 15 Minuten Ruhm. Und das Internet ist ja sowas wie der neue Stammtisch.
So sind sie, die Shitstorms und –störmchen. Gespielte Medienhysterie mit Schaum vor dem Mund. Und mitmachen lohnt sich: Wer am schnellsten ist, kommt zu Günther Jauch auf´s Sofa. Deutschland sucht den Super-Shitstormer. Gib den Medien Futter und dem Volke Spiele.
Das Internet ist für uns alle Neuland
Nun also auch Angela Merkel. Deutschlands Bundeskanzlerin ist in den letzten 8 Jahren mit Bravour an jedem Fettnapf vorbeigeschlendert. Ihre Rhetorik ist ungreifbar fluffig – über alle Themen hinweg. Sie sagt alles und trotzdem nichts. Kantenlos, schnörkellos, kurz und knapp. Mit dieser Methode bot sie der Netzgemeinde wenig Angriffsfläche (von der Opposition geht ohnehin keine Gefahr aus). Bis heute. Und dann das: Bei einer Pressekonferenz im Rahmen des gestrigen Obama-Besuchs in Berlin las Angela Merkel - augenscheinlich mit voller Absicht - vor: “Das Internet ist für uns alle Neuland.”
Neuland??
20 Jahre Internet und die Kanzlerin spricht von Neuland?
Und schon geht er los, der große Karnevalsumzug durchs Internet. Rufftata. Einmal von Spiegel Online über Facebook und Twitter bis hin zu Tumblr und zurück geht die Party. Doch die Empörung der Online-Narrhelesen ist so gespielt wie die Heiterkeit bei einer Kölner Büttenrede. Alle schunkeln, einer macht einen lustigen Blog auf und alle freuen sich, dabei zu sein. Ist ja auch wie Weihnachten und Ostern an einem Tag: Endlich mal kollektiv gegen die Kanzlerin wettern. Und ohne jede Gegenwehr: Die Karawane der Schenkelklopfer zieht ja nur in eine Richtung. Oh, wie ist es schön, ein Troll zu sein.
Als Zwischenbemerkung sei hier eingeschoben, dass wir heute keine Kanzlerin gehört haben, die zum ersten Mal staunend eine Webseite bewundert hat – die Äußerung von Angela Merkel bezog sich auf das Thema Prism. Dieses Thema ist ernst und wahrscheinlich fast so komplex wie die Rettung des „Euro“ - und es ist tatsächlich neu(land). Aber Gott bewahre – die Regierung in Schutz zu nehmen wäre falsch. Sie ist und bleibt in der Pflicht, das Thema „internationaler Datentransfer“ in unserem Sinne zu regeln (was immer das heißen mag?!). Und nicht nur das!
Doch zurück zur s.g. Netzgemeinde, der von den heutigen Medien nicht selten eine Art intellektuelle Führerschaft zugesprochen wird (immerhin haben sie es geschafft, sich bei Twitter anzumelden (Twitter ist übrigens dieses neumodische Dings, aus dem sie beim ZDF während der Sendung immer vorlesen)). Diese Netzgemeinde versagt. Und zwar auf ganzer Linie. Denn mit einem süffisanten Kommentar oder dem Klicken eines Like-Buttons wird unsere Gesellschaft kein Deut besser. Sie wird nur ein bisschen mehr RTL.
Deutschland - das digitale Entwicklungsland
Dass unsere Politiker das Netz nicht verstehen, ist nichts Neues. Deutschland ist in der digitalen Welt ein Entwicklungsland. USA, China, Skandinavien – sie alle sind Jahr(zehnt)e weiter als wir. Um das zu bemerken, braucht es keinen Hashtag namens Neuland, eher einen, der sich #DigitaleCouchpotatoes nennt. Denn nichts anderes ist die s.g. Netzgemeinde. Natürlich nicht pauschal. Aber wer maßt sich an zu johlen, wenn er selbst nicht zur Besserung beiträgt? Glashaus…Steine…
Im Internet steckt so viel Potenzial für eine bessere Gesellschaft. Konsequent eingesetzt könnten wir wahrscheinlich auf 75 Prozent der Beamten verzichten, die Bürokratie halbieren, die Steuererklärung automatisieren, uns mental entlasten u.v.m. - ein ungehobener Schatz, von dem wir nur eine vage Vermutung haben. Doch wer soll es richten?
Angela Merkel kann das nicht. Peer Steinbrück auch nicht. Auch die Grünen sind längst zu alt dafür. Und die Piraten müssen erst noch diskutieren, worüber sie als nächstes diskutieren wollen. Überforderung allerorten. Den deutschen Volksparteien fehlt es an Online-Kompetenz. Und sie haben ihre digitale Unkenntnis längst eingestanden. Daher haben sie gemeinsam im Jahr 2010 eine s.g. digitale Enquete einberufen. Das Ziel unserer führenden Politiker war es, dass ihnen endlich mal jemand dieses Internet erkläre.
Auszug Abschlussbericht: „Zwischen Mai 2010 und Januar 2013 hatte die Enquete in 20 Gesamtsitzungen und 179 Projektgruppensitzungen getagt. Insgesamt wird die Enquete-Kommission zwölf Zwischenberichte, einen Tätigkeitsbericht und den Schlussbericht vorlegen. “Die insgesamt zweitausend Seiten spiegeln ein umfassendes Bild der digitalen Gesellschaft wider: eine bisher beispiellose Beschreibung der Potentiale, der Problemfelder und der Lösungsansätze““ – oder in Kurzform: „wir haben einfach keine Ahnung“. Der Bundestag am Rande der Ohnmacht.
Sicher. Das ist schockierend, denn es ist der blanke digitale Bankrott von Regierung un Opposition. Doch es ist vor allem auch eins: Nicht neu! Es braucht keine unglückliche Formulierung der Kanzlerin (zumal in einem anderen Kontext geäußert), um sich darüber aufzuregen. Politik ist in Deutschland zu einem Kasperletheater verkommen, an dem viele, viel zu viele, das Interesse verloren haben. Sie schauen nur noch hin, wenn mal wieder eine Hetzjagd auf einen Wulff oder zu Guttenberg stattfindet. Schuld daran sind jedoch nicht nur die politischen Akteure.
Empört Euch!
Der unlängst verstorbene Stéphane Hessel postulierte in seinem berühmten Werk „Empört Euch!“ (kein Affiliate Link!), dass die Wurzeln des Widerstands in der Empörung liegen. Ein Like-Button ist jedoch genau so wenig eine Empörung wie ein Tweet oder eine Kommentar auf Spiegel-Online. Und auch ein Shitstorm ist kein echter Protest, sondern nur eine Gewissensberuhigung für den Teilnehmer - gepaart mit dem Drang zur Selbstdarstellung. Wer hingegen einen groben Missstand identifiziert und mit Leidenschaft dagegen aufbegehrt, das ist wahre Empörung. Sie verdient Bewunderung.
Alle anderen sind leider nur #DigitaleCouchpotatoes.
Der gestrige Tag war wichtig. Die Erkenntnis des #Neulands ist wichtig. Die Kanzlerin hat auf ihre eigene Weise um Hilfe gerufen. Es ist nun an den Jungen, das Land digital zu formen und zu verändern. Die Alten haben in diesem Kontext den Zenit ihrer Möglichkeiten längst erreicht. Doch sich darüber lustig zu machen ist stillos. Stattdessen sollte man die Alten an die Hand nehmen und sicher über die Straße geleiten. So funktioniert Gesellschaft.
Ein Teil der Netzgemeinde mag die Missstände erkannt haben. Einzig das Empören hat sie noch nicht gelernt. Doch bleiben wir optimistisch.